Kurztext: Ein altes Telefunken-Radio begleitete die Familie des Erzählers durch die Kriegs- und Fluchtzeit. Trotz vieler Gefahren und der Umstände wurde es nie aufgegeben. Erst viel später, als der Erzähler das Radio entsorgt hatte, erkannte er dessen wahre Bedeutung. Zu seinem 65. Geburtstag erhielt er von seiner Familie ein gleichartiges Radio als Geschenk.
Aus dem Leben eines alten Radioempfängers
Oder welchen hohen ideellen Wert so ein Gerät annehmen kann
von Hans- Jürgen Wodtke
Meine Kindheitserinnerungen an unser Telefunken-Radio
Sicherlich hat das jeder schon mal erlebt, man ist sich ganz sicher: das brauche ich nie wieder, um sich dann später für diese Entscheidung zu geißeln. Mir ist es auch so gegangen und je mehr Jahre ins Land zogen, umso mehr habe ich meine damalige Entscheidung bereut. Was war geschehen?
Weihnachten 1941 in Sommerau (Westpr.). Am rechten Bildrand das Telefunken-Radio unserer Familie. Foto: Archiv Wodtke
So lange ich denken konnte, befand sich im Wohnzimmer bei meinen Großeltern ein großer schwarzer Kasten. Es handelte sich um ein Radio der Firma Telefunken, wie man deutlich auf dem Bakelitgehäuse lesen konnte. Bakelit ist ein Kunststoff, der um 1910 entwickelt wurde und dann in den 1930er Jahren seinen Siegeszug besonders in der Elektro- und Rundfunktechnik antrat. Auch die Nazis hatten dieses erkannt und ließen daraus das Gehäuse für den besonders preiswerten Volksempfänger produzieren. Doch bei dem Radio meiner Großeltern handelte es sich um ein recht hochwertiges Gerät, wie ich später in Erfahrung bringen konnte. Sie hatten dieses unmittelbar vor Beginn des 2. Weltkrieges gekauft. Und so hieß es immer, das Radiogerät haben wir von zu Hause mitgebracht. Das war eine Äußerung mit der ich als Kind damals nicht allzu viel anfangen konnte, aber ich spürte, dass es sich für meine Großeltern ohne Zweifel um etwas ganz außergewöhnlich Großes und Wertvolles handeln musste. Doch damals erschloss sich mir natürlich nicht, was das wohl hätte sein können. Wie denn auch.
Bevor der Fernseher bei uns im Hause Einzug hielt, saßen meine Altvorderen so manchen Abend gemeinsam vor dem Radio, machten Handarbeit oder lasen die Zeitung während sie Musiksendungen, Hörspiele aber vor allem die Nachrichten aus aller Welt verfolgten. Eine, rückwirkend betrachtete, heile Welt von der ich mich aber mit zunehmenden Alter und wachsendem Interesse für die aktuelle Musik zunehmend entfernte und es dadurch durchaus auch zu Interessenkonflikten beim Radio hören kam.
Kommunikationtechnischer Wandel
1961 zog das Fernsehen in unsere heimischen Räume ein. Damit verlor das altgediente Telefunkenradio zunehmend an Dominanz im Familienleben. Rein theoretisch hatte sich meine Situation dahingehend verbessert, dass ich nun ungestörter die eigenen Radiosendungen hören konnte. Doch inzwischen hatte sich der wesentlich störungsfreiere UKW-Rundfunk durchgesetzt und viele der für mich interessanten Jugendsendungen liefen in dem Rundfunkband. Und eben dieses beherrschte unser Radioveteran natürlich nicht. Doch wozu ein neues und vor allem teures Radiogerät anschaffen, wenn das alte noch lief, so der Tenor meiner Großeltern. Da keimte natürlich jedes Mal neue Hoffnung auf, wenn der Veteran kaputt ging. Doch der alte und erfahrene Elektromeister Richard Kurz aus Rathenow–West bekam das alte Ding immer wieder zum Laufen. Das war einfach unglaublich frustrierend für mich. So musste ich noch einige Jahre warten, bis ich mir dann von meinem Jugendweihegeld das lang ersehnte eigenes Kofferradio kaufen konnte. Nun war mir vollkommen egal, was mit dem alten Telefunkenradio geschah. Es leistete wohl noch bis in die 1980er Jahre seinen Dienst. Dann kam das endgültige Aus, weil niemand mehr das Gerät reparieren konnte oder wollte. Irgendwer brachte es dann auf den Speicher bis es in den frühen 1990er Jahren einer meiner Aufräumaktionen zum Opfer fiel und dann unter den Eindrücken der „neuen Zeit“ aus meinem unmittelbaren Erinnerungen verschwand.
Fluchtgeschichte und deren historische Bedeutung
Erst als ich mich vor rund zehn Jahren mit der Aufarbeitung der Regionalgeschichte zu beschäftigen begann, rückte auch die Fluchtgeschichte meiner Familie und damit auch das alte Telefunkenradio wieder in mein Erinnerungsfeld. Je tiefer ich mich in diese Materie einarbeitete, umso mehr bekam ich eine Vorstellung vom geflügelten Wort meiner Vorfahren: das haben wir von zu Hause mitgebracht.
So weiß ich heute, dass das Radio um die 800 Kilometer bei Regen, Kälte und Schnee, offensichtlich gut verpackt, auf dem Treckwagen aus dem westlichen Ostpreußen unbeschadet zurückgelegt hat. Dabei war es nicht nur den Wetterunbilden sondern vielen anderen Gefahren wie Diebstahl, Beschuss durch Tiefflieger usw. ausgesetzt. Als der Treck im März 1945 die Müritz erreichte, lebten von den vier Pferden die den Wagen anfangs zogen, nur noch eins und auch das war krank. Doch meine Leute wollte nicht im Mecklenburgischen bleiben. Sie zog es weiter nach Böhne. So blieb für das weitere Fortkommen nur die Flucht mit der Bahn. Obwohl das Radiogerät mehr als 11 Kilogramm wog haben sie dieses auch unter den nun wesentlich komplizierteren Bedingungen nicht zurückgelassen. Endlich im Böhner Ortsteil Möthlowshof angekommen, drohte dem soweit gereisten Rundfunkgerät mit Eintreffen der ersten Rotarmisten neue Gefahren. Denn Radios waren bei den Soldaten mit dem roten Stern sehr begehrte Objekte. Die Begierde der Besatzer stieg im Laufe der nächsten Zeit so sehr, dass sie forderten, dass alle im Besitz von Deutschen befindlichen Rundfunkempfänger bei der russischen Komandantur in Rathenow abzugeben seien. Bei Zuwiderhandlungen drohten empfindliche Strafen. Wie Zeitzeugen später berichteten langen vor dem Postgebäude in Rathenow dann mehrere Tage große Mengen solcher konfizierter Rundfunkempfänger unter freiem Himmel auf einem großen Haufen und warteten auf den Abtransport ins Land des Roten Oktober.
Eine freiwillige Hergabe des geliebten Telefunkenradios an die Russen kam für meine Großmutter aber nicht in Frage. So hatte auch dieses Mal unser Radio dank dem Mut und Ideenreichtung der Besitzer sowie besonderer günstiger Umstände unglaubliches Glück und mußte nicht den langen Weg in die Weiten Sibiriens antreten.
Die Telefunken-Radio-Geschichte mittels KI generiert (Dez. 2025)
Spätes Bedauern und glückliche Wendung
Der Lebensweg des Gerätes endete wie oben beschrieben und ich begann nachdem ich nun die Geschichte des schwarzen Kasten rekapituliert hatte, mich fürchterlich über mich selbst zu ärgern. Zugegeben, als ich die Entscheidung zur Entsorgung traf, wußte ich kaum etwas von der Odysse, die dieses Erinnerungsstück zurückgelegt hatte. Dennoch ich hätte es gern ungeschehen gemacht.
Das wußte auch meine Familie nur zu gut und machte mir eine riesige Freude als sie mir zu meinem 65. Geburtstag genau so einen alten Telefunken-Empfänger schenkte. Wahnsinn!
Natürlich war es nicht unser Radio von damals. Oder vielleicht doch. Wer kann das schon wissen. Wie auch immer. In jedem Fall wird der Radioveteranen für immer einen angemessenen Ehrenplatz bei mir erhalten.
Quellen:
• Hans- Jürgen Wodtke „Flucht aus Ostpreußen nach Böhne“ in „Die letzten Tage im Krieg und die
ersten Wochen im Frieden in der Region um Rathenow, Teil I von 2006
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 11. Dez. 2016 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow