Grüße zum Advent
Der Rathenower Heimatbund e.V. wünscht seinen Unterstützern und seiner werten Kundschaft eine gesegnete Vorweihnachtszeit.
Kurztext:
Im Frühjahr 1945 flohen Millionen Menschen vor der Roten Armee aus den deutschen Ostgebieten Richtung Westen. Die Flüchtlinge erlebten Kälte, Hunger und unmittelbare Kriegseinwirkungen; Viele starben unterwegs an den unmenschlichen Strapazen. Einige, darunter die Angehörigen des Autors und die Familie von Karl Fröse, erreichten nach langer, gefährlicher Flucht das Havelland und fanden hier eine Zuflucht und schließlich ein neues zu Hause.
Hunderttausende auf der Flucht
Auf der Suche nach einem neuen Zuhause im Havelland
von Hans-Jürgen Wodtke
Anfang 1945 wuirde die Lage im Osten zunehmend kritischer
Flucht und Vertreibung aus Ost- und Südosteuropa. Bildcollage Wodtke
In den ersten Februarwochen des Jahres 1945 wurde die Situation für die Menschen in den einst deutschen Gebieten östlich der Oder immer bedrohlicher. Die Rote Armee setzte ihre am 12. Januar 1945 an der einstigen Ostgrenze des Reiches begonnene Weichsel-Oder-Operation in einem rasanten Tempo fort, die den deutschen Verbänden kaum Chancen auf nennenswerten Widerstand bot. Bereits am 30. Januar 1945 standen die Spitzen der Roten Armee bei Küstrin an der Oder und teilten so Ost- und Westpreußen sowie Pommern im Norden von den südlicher gelegenen Reichsgebieten östlich der Oder ab.
In großräumigen Umfassungsbewegungen der Roten Armee waren die Gebiete um Königsberg und Elbing schnell zu Kesseln geworden, in denen sich die belagerten deutschen Einheiten verzweifelt gegen die Umklammerung der übermächtigen Angreifer stemmten. In diesen Kesseln irrten auch Tausende von panischer Angst getriebene Zivilisten umher. Diese hatten zuvor, nur zu oft völlig überstürzt, ihre Wohnungen und Höfe verlassen und versuchten nun sich vor dem Kriegsgeschehen und den befürchteten Übergriffen der Rotarmisten irgendwie in Sicherheit zu bringen.
Flucht unter lebensbedrohlichen Bedingungen
Jetzt irrten die armen Menschen, vom jüngsten Kleinstkind bis zum betagten Greis, bei eisiger Kälte und von stetigen Kampfhandlungen bedroht, durch ihnen unbekanntes Land und suchten verzweifelt einen Ausweg aus ihrer nur zu oft lebensbedrohlichen Lage. Zu diesen hunderttausenden auf die Flucht geratenen Menschen gehörten auch, wie bereits in der BRAWO am 11. Januar 2025 berichtet, meine Familie und die Angehörigen von Karl Fröse.
Meine Vorfahren, fünf Frauen im Alter zwischen 13 und 84 Jahren erreichten am 8. März 1945, nach 46 Tagen voller Entbehrung sowie unmenschlichem Grauen, den Böhner Ortsteil Möthlowshof und fanden hier bei Verwandten ein vorübergehendes Zuhause. Doch nicht alle, der mit Ihnen auf die Flucht Gegangenen hatten dieses Glück. So war die Jüngste, die elfjährige Traudchen, zuvor für immer im tückischen Eis des Frischen Haffs geblieben.
Die Treckgemeinschaft um Karl Fröse
Der lange und gefährliche Fluchtweg über Das "Frische Haff". Bildcollage WodtkeZu der Zeit war der aus dem Elchkreis, dem nordöstlichsten Teil Deutschlands stammende Karl Fröse und seine Treckgemeinschaft noch unterwegs. Sie hatten unter großen Entbehrungen und viel Glück die Flucht über das zugefrorene Frische Haff und den gefährlichen Weichselübergang bei Danzig sowie den weiteren Weg bis vor die Tore Stettins bewältigen können. Mitte März kamen sie hier der Front noch einmal bedrohlich nahe. In seinem Fluchtbericht, welcher auch Bestandteil des 5. Teiles der beliebten Reihe „Die letzten Tage im Krieg und die ersten Wochen im Frieden in der Region um Rathenow“ sein wird, heißt es: „Es war ein schöner Tag und es fanden sich recht bald Flieger über uns ein. Es dauerte nicht lange, als einer runterkam, eine Bombe [auf unsere Wagen] fallen ließ und mit dem MG zwischen uns hielt.“ Nach mehrmaligem Beschuss gab es unter den Treckmitgliedern einige verwundete Menschen und auch einige verletzte Pferde. “Ich glaube“, so Fröse, „die Flieger suchten wohl eigentlich militärische Ziele, denn die hätten uns, so frei wie wir standen, total kaputt machen können“.
Heimtückische Bombenangriffe, eisige Kälte und gefährliche Eisglätte
In der darauffolgenden Nacht wurde Fröse und seine Leute erneut vom Krieg eingeholt, als sie von nahe liegenden Bombeneinschlägen geweckt wurden. “Die Einschläge“, so Fröhse, „lagen zwar noch weit genug von uns entfernt, doch mussten es schwere Sachen gewesen sein, da der Erdboden bis zu uns bebte. Von den Ereignissen arg verängstigt beschlossen wir sofort weiterzufahren. Da die Nacht recht kalt war, bildete sich auf der [Straße] eine Eisschicht, die das Vorankommen stark erschwerte. Die kleinste Steigung bereitete da schon Schwierigkeiten. So dass alle, ob Mann, Frau, Greis oder Kind mit bloßen Händen Sand von der Böschung zur Bestreuung auf die Fahrbahn kratzen mussten. Danach ging es ein Stück weiter, bis ein Pferd stürzte und sich verletzte. Alles stand still, es ging nicht mehr weiter. Die Pferde waren am Ende ihrer Kraft und wir auch.“
Weiter heißt es in Fröhses Aufzeichnungen: „Derweil waren die Flieger dauernd am Werk, Kronleuchter oder Magnesiumbomben standen in der Luft. Es war so hell, dass man hätte Zeitung lesen können. Die Bomben krachten serienweise, so dass wir meinten, die Erde verschwindet unter uns. Alles war still in sich versunken. Jeder dachte die nächste Bombe trifft uns, doch keiner sagte einen Ton. Seitlich von uns schlugen Granaten ein, diese galten der Stadt.
Menschliches Grauen an der Oderbrücke
Als der Morgen graute, waren die Flieger verschwunden. Bei uns löste sich langsam die Starre, zumal sich auch die Eisschicht aufgelöst hatte. Wir fuhren mit bangem Herzen weiter in Richtung Oderbrücke. Diese war zum Glück nicht getroffen aber der Fahrdamm. Unseren Augen bot sich hier ein Bild des Schreckens. Den zahlreichen Flüchtlingen, die sich in der Nacht hier aufhielten, war es schrecklich ergangen. Wagenteile, tote Menschen und Tiere lagen überall herum. Verstört herumlaufende Menschen und wildgewordene Pferde vergrößerten das Chaos noch. Die vielen Verwundeten hatte schon eine Sanitätskompanie abgeholt. Vor Grauen und Entsetzen musste man sich manchmal abwenden. Wir dankten dem lieben Herrgott für die Eisschicht auf der Straße. Wäre sie nicht gewesen, wären wir wohl zur Zeit des nächtlichen Bombenangriffs hier gewesen. So aber konnten wir die Oder körperlich unbeschadet überwinden und setzten unsere Flucht ins havelländische Friesack fort.“
Endlich Ankunft im Havelland
An welchem Tag sie Friesack erreichten, ist leider nicht belegt. Nach kurzer Rast in der Fliederstadt führte sie ihr Fluchtweg auf der letzten Etappe schließlich nach Giesenhorst, einem heutigen Ortsteil von Deetz. Hier endete ihre Flucht und die Fröhses fanden nach über 800 Kilometern Fluchtweg bei Verwandten für die nächste Zeit eine Aufnahme.
Man geht heute davon aus, dass allein rund 2,3 Millionen Ost- und Westpreußen sich auf die Flucht begaben oder nach dem Kriegsende vertrieben wurden. Dabei ließen etwa 300000 von ihnen ihr Leben. Die Zahl der insgesamt zwischen 1945 bis 1950 geflohenen und vertriebenen Deutschen in Europa wird lt. Wikipedia auf 12 bis 14 Millionen geschätzt.
Erschienen mit geringfügigen Änderungen am 11. Januar 2025 in der BRAWO, Lokalausgabe Rathenow